Wenn politischer Ideologiekrieg zu moralischer Verblendung wird: des Öfteren fallen extreme Rechte in ihrer Radikalisierung auf. Trägt unsere Gesellschaft eine große Mitschuld?
„Da muss man für Werte eintreten“
Es war der Oktober 2015. Der Kaßeler Regierungspräsident Walter Lübcke diskutierte mit Bürgern über eine geplante Flüchtlingsunterbringung. Hierbei störten Rechtsradikale die Veranstaltung durch Zwischenrufe und Pfiffe. An diese richtete er deutliche Worte. Es lohne sich, so Lübcke, in diesem Land zu leben und für deßen Werte einzustehen. Wer diese Werte nicht vertrete, könne dieses Land jederzeit verlaßen.1
Lübcke wollte die Ängste der Bürger kennenlernen. Seine Sätze wurden jedoch im Internet aus dem Zusammenhang gerißen. So schien es fälschlicherweise, dass sich der gebürtige Nordheße gegen alle Kritiker der damaligen Flüchtlingspolitik richtete – und etwa nicht an die rechtsextremen Störer der Veranstaltung. Daraufhin benötigte Lübcke Polizeischutz.1
Am 2. Juni 2019 ließ Lübcke den Tag an einer Zigarette auf seiner Veranda ausklingen. Aus nächster Nähe wurde er dabei erschoßen.2 Warum musste der CDU-Politiker sterben?
Hinter der Tat steht Stephan E. Der Täter hatte eine Frau und zwei Kinder und wohnte in einem Einfamilienhaus. In der Rolle eines Nachbars galt er als unauffällig, auf der Arbeit war er zurückhaltend. Doch schon in den Achtzigerjahren fiel Stephan E. als gewaltbereit auf und war in der NPD aktiv. Ab 1992 reihten sich Gewalttaten an Migranten. Auch war er in rechtsextremen Netzwerken aktiv.3 Als Motive von Stephan E. können Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus genannt werden – sowie die Ablehnung von Lübckes Asylpolitik.4 Anläßlich dem Tod des Regierungspräsidenten fielen im Internet Reaktionen wie: „Die Drecksau hat den Gnadenschuss bekommen“ oder „Eine widerliche Ratte weniger“.5

Für „unsere Werte“ – wie es Lübcke beschrieb – kann man tagtäglich eintreten. Beispielsweise durch eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Dieses Engagement ist ein Einsetzen für Demokratie und Gerechtigkeit.
Mit zwei Sixpacks Bier
Alex war 20 Jahre alt und Schüler. Er arbeitete an einer Tankstelle in Idar-Oberstein, um seinen Führerschein zu finanzieren. Am 18. September 2021 fuhr Mario N. auf die Tankstelle, in der Alex jobbte. Dabei holte er zwei Sixpack Bier aus dem Regal. Dann ging er zur Kaße. Alex wies Mario N. daraufhin, daß er eine Maske zu tragen habe. Mario N. trug nämlich keine.6
Es kam zu einem Steitgespräch. Dabei schmeißte Mario N. das Bier, das er auf den Verkaufstresen gestellt hatte, um und fuhr zu einer anderen Tankstelle. An der anderen Tankstelle hatte er eine Maske auf – und kaufte sich fünf Dosen Bier, ehe er nach Hause fuhr.6
Das klingt insoweit auf den ersten Blick belanglos. Doch eine Zeit lang später fuhr Mario N. wieder an die Tankstelle, in der Alex sein Geld verdiente. Er trug Maske und holte sich erneut einen Sixpack Bier. Mario N. stellte sich an der Kaße an. Als er an der Reihe war, zog er seine Maske nach unten. Dabei forderte Verkäufer Alex den Kunden Mario N. auf, die Maske hochzuziehen.6
Dies tat Mario N. nicht. Der Kunde zog einen Revolver aus der Hose und erschoß Alex.6 Wie bei Walter Lübcke fragt sich hier: Warum musste Alex sterben?
Auch Mario N. galt den Behörden als unauffällig – ähnlich wie bei Stephan E. Er lebte zurückgezogen. Die COVID-19-Maßnahmen kritisierte er, und informierte sich aus einschlägigen Alternativmedien.7 Die Motive des Mario N. waren Rechtsradikalität und die Feindschaft gegen den Staat. Alex galt für Mario N. als Repräsentant dieses Staates mit verfehlter COVID-19-Politik – da der 20-Jährige ihn auf die Maske hinwies.8 Im Internet wurde der Mord teils verherrlicht, teils verharmlost.9
Auffällige AfD-Nähe
Stephan E., der Mörder von Walter Lübcke, half 2018 beim AfD-Wahlkampf mit und nahm an Parteiveranstaltungen teil.10 Mario N., Mörder von Alex, gab sich auf Twitter als Fan der AfD aus.11
Kann man hier von rechtextremen Einzelfällen sprechen? In der „Patriotischen Union“, einer Vereinigung, die den Umsturz der deutschen Bundesregierung plante,12 befanden sich auch Personen mit AfD-Nähe. So zum Beispiel die ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann. Auch eine Ruth Hildegard L. kann dem Kreis der „Patriotischen Union“ zugerechnet werden, die versucht hatte, einen AfD-Ortsverein in Heppenheim zu gründen.13
Am 25. Januar 2023 fand ein Geheimtreffen in Potsdam statt, in dem die Deportation vieler Menschen thematisiert wurde – getarnt als „Remigration“. Aus der AfD nahm an dem Treffen Roland Hartwig – damals rechte Hand von Alice Weidel -, die Bundestagsabgeordnete Gerrit Huy, Ulrich Siegmund – der AfD-Fraktionsvorsitzender in Sachsen-Anhalt – und Tim Krause – stellvertretender AfD-Vorsitzender im Kreis Potsdam – teil.14
Im Jahr 2019 brach der AfD-Politiker Björn Höcke noch ein ZDF-Interview ab, weil ihm die Vergleiche mit den Nationalsozialisten und seinen Werken nicht gefielen, die vom Reporter fokussiert wurden.15 Bei einem Geheimtreffen, das der Wannseekonferenz von 1942 stark ähnelt und den Putschideen der „Patriotischen Union“, die auch im Münchener Bürgerbräukeller ihren Anfang hätten nehmen können, wird eine Differenzierung zwischen AfD und den dunkelsten Zeiten Deutschlands immer schwieriger.

Der erfolglose Hitler-Ludendorff-Putsch begann am 8. November 1923 im Münchener Bürgerbräukeller. Keineswegs darf sich der Nationalsozialismus erneut in Deutschland etablieren. Dafür gehen Menschen derzeit auf die Straße.
Wie sehr ist Kritik an der AfD berechtigt?
Trägt unsere Gesellschaft eine große Mitschuld für die Taten in Kaßel oder Idar-Oberstein? Schaut man die psychologische Systemtheorie an, gibt es keinerlei Einzeltäter. Es gibt lediglich Indexpatienten, die quasi Indikatoren dafür sind, daß in einer gesamten Gruppe oder Gesellschaft etwas nicht stimmt.
Sind Stephan E. und Mario N. diese Indexpatienten? Ist unsere Gesellschaft so kaputt, daß diese Taten entstehen? Doch dieser Erklärungsweg ist falsch. Kein Mörder darf durch eine derartige Denkart geschützt werden.
In stillen Momenten darf man sich fragen, wie ein Robert Blum auf derzeitige Umfragen zur Bundestagswahl blicken würde. Er bezahlte sein Leben damit, als Kämpfer während der deutschen Revolution von 1848 für Demokratie einzutreten. Würde ein Robert Blum AfD wählen? Wohl kaum – denn er wüßte ganz sicherlich, daß Demokratie ein hartes, erkämpftes Gut ist.
Kritiker an der Pluralistischen würden nun sagen, daß dieses Medium als Systemling agiert – treu gegen die AfD. Nach den Aussagen von Margot Friedländer („So hat es ja damals auch angefangen“, Tagesschau (ARD)) läßt sich eine große Kritik gegen die AfD jedoch nicht wegdiskutieren. Ebenso für viele Menschen, die derzeit maßenhaft gegen die AfD auf den Straßen demonstrieren.
Quellen
1Tagesschau (ARD): Mord an Walter Lübcke: Wenn aus Worten Taten werden (Stand: 29.12.2019). In: https://www.tagesschau.de/inland/luebcke-159.html [Zugriff vom 27.01.2024]
2Fittkau, Ludger (Deutschlandfunk): Anklage im Fall Walter Lübcke: Vorwurf: Mord aus rechtsextremistischen Motiven (Stand: 29.04.2020). In: https://www.deutschlandfunk.de/anklage-im-fall-walter-luebcke-vorwurf-mord-aus-100.html [Zugriff vom 27.01.2024]
3Der Spiegel: Mordfall Walter Lübcke: Was wir über den Täter wissen (Stand: 26.06.2019). In: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/walter-luebcke-stephan-ernst-was-wir-ueber-den-taeter-wissen-a-1274385.html [Zugriff vom 27.01.2024]
4Tagesschau (ARD): Tod von Kasseler Regierungspräsident: BGH bestätigt Urteile im Mordfall Lübcke (Stand: 25.08.2022). In: https://www.tagesschau.de/inland/luebcke-bgh-revision-abgelehnt-101.html [Zugriff vom 27.01.2024]
5Tagesschau (ARD): Kasseler Regierungspräsident: Rechtsextreme verhöhnen Getöteten (Stand: 04.06.2019). In: https://www.tagesschau.de/inland/rechtsextreme-regierungspraesident-101.html [Zugriff vom 27.01.2024]
6Jakobi, Sibylle (Südwestrundfunk): Vor der Urteilsverkündung: Mordprozess um tödlichen Schuss an Tankstelle – ein Rückblick (Stand: 10.9.2022). In: https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/mainz/rueckblick-auf-mordprozess-um-toedlichen-schuss-an-tankstelle-in-idar-oberstein-100.html [Zugriff vom 27.01.2024]
7Litschko, Konrad (TAZ): Prozess zu Tötung in Idar-Oberstein: Eine nicht fassbare Tat (Stand: 20.3.2022). In: https://taz.de/Prozess-zu-Toetung-in-Idar-Oberstein/!5842633/ [Zugriff vom 27.01.2024]
8Süddeutsche Zeitung: Idar-Oberstein: Nach Urteil zu Tankstellenmord: Staatsanwaltschaft geht in Revision (Stand: 15.09.2022). In: https://www.sueddeutsche.de/panorama/tankstelle-mord-idar-oberstein-corona-maskenpflicht-urteil-1.5658153 [Zugriff vom 27.01.2024]
9Emminger, Sarah (Kurier): Erschütterung über Mord an Tankstelle wegen Maskenpflicht (Stand: 21.09.2021). In: https://kurier.at/chronik/welt/erschuetterung-ueber-mord-an-tankstelle-wegen-maskenpflicht/401743245 [Zugriff vom 27.01.2024]
10Der Spiegel: Stephan Ernst: Mutmaßlicher Lübcke-Mörder half AfD im Wahlkampf (Stand: 21.01.2020). In: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/stephan-ernst-mutmasslicher-luebcke-moerder-war-bei-afd-aktiv-a-474826c9-5fc3-4fd8-a992-7ab9d7904d74 [Zugriff vom 28.01.2024]
11Huesmann, Felix (Redaktionsnetzwerk Deutschland): AfD-Fan mit Kriegsfantasien: Was wir über den mutmaßlichen Mörder von Idar-Oberstein wissen (Stand: 22.09.2021). In: https://www.rnd.de/politik/idar-oberstein-war-er-der-mutmassliche-moerder-twitterprofil-von-afd-fan-mit-kriegsfantasien-YM6YIZMWVNGKZHLTAFFLEBKCAM.html [Zugriff vom 28.01.2024]
12Heyen, Theo und Reutter, Thomas (Südwestrundfunk): Pläne der „Patriotischen Union“: ARD-Recherche: Blick in den inneren Kreis der „Reichsbürger“-Gruppe um Prinz Reuß (Stand: 05.12.2023). In: https://www.swr.de/swraktuell/schattenreich-die-umsturzplaene-der-reichsbuerger-100.html [Zugriff vom 28.01.2024]
13Baeck, Jean-Philipp (et al.) (TAZ): Razzia gegen Reichsbürger: Die Umstürzler von nebenan (Stand: 09. 12. 2022). In: https://taz.de/Razzia-gegen-Reichsbuerger/!5898636/ [Zugriff vom 28.01.2024]
14Correctiv: Neue Rechte: Geheimplan gegen Deutschland (Stand: 10.01.2024). In: https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/ [Zugriff vom 28.01.2024]
15Vgl. ZDF: ZDF-Interview mit Björn Höcke in voller Länge (Stand: 15.09.2019). In: https://www.zdf.de/politik/berlin-direkt/zdf-interview-mit-bjoern-hoecke-in-voller-laenge-100.html [Zugriff vom 28.01.2024]